Dienstag, 8. Dezember 2009

Gedichtvergleich_SA 1

Gottlieb List (1687 – 1750) regt mit seinem Gedicht der Aufklärung „Lob der einsamkeit“ den Leser an, sich der Einsamkeit zu erfreuen und dieselbige zu genießen und auszukosten, wogegen Rose Ausländer, eine jüdische Dichterin der Moderne, (1901 – 1988) mit „Einsamkeit II“ die Einsamkeit als etwas äußerst Negatives darstellt, das unweigerlich mit Alleinsein und Verlassenwerden verknüpft ist. Ich werde im Folgenden aufzeigen, wie unterschiedlich der Zustand „Einsamkeit“ wahrgenommen werden kann und dazu die beiden Gedichte „Lob der einsamkeit“ und „Einsamkeit II“ miteinander vergleichen.

Das lyrische Ich des Gedichtes „Lob der einsamkeit“ beschreibt die Freude und Wohlgefallen an der erlebten Einsamkeit, sie wirkt tröstend und sorgt dafür, dass wird durch sie das „was gerecht und edel heist“ finden können. Insgesamt umfasst das Gedicht drei Strophen zu je vier Verszeilen, und kann grob in zwei Sinnabschnitte eingeteilt werden. Der erste Sinnabschnitt besteht aus der ersten Strophe, welche die Einsamkeit aus Sicht der Masse und eigener Sicht darstellt. Mit den übrigen beiden Strophen begründet das lyrische Ich seine eigene Einstellung zur Einsamkeit. Ein umarmender Reim zieht sich durch das ganze Gedicht. Optisch auffällig sind die vielen Beistriche, welche für die Zäsuren verantwortlich sind. Das Versmaß ist ein vierhebiger Trochäus mit männlicher Endung, wobei sich dies nur auf die jeweils erste und letzte Zeile der einzelnen Strophen bezieht, die übrigen Verszeilen werden auch von einem vierhebigen Trochäus bestimmt, jedoch ist deren Endung stets weiblich.
Rhetorisch auffällig ist in der ersten Strophe die doppelte Verneinung „Schimpflich ausgehöhnet“ in Zusammenhang mit der Meinung anderer zur Einsamkeit. Die gegensätzliche Einstellung des lyrischen Ichs wirkt zudem noch als Verstärkung („ Nichts vergnüget mich auf erden, / Als wenn ich alleine bin“). In diesem Fall wird Einsamkeit als Sinnfindung empfunden, das lyrische Ich findet „Was gerecht und edel heist“ durch „Stilles leben“ und spricht in der dritten Strophe davon, dass Einsamkeit tröstend wirkt.

Dass Einsamkeit auch bedrücken und traurig machen kann, wird in „Einsamkeit II“ schnell klar. Rose Ausländer verbindet Einsamkeit mit Verlust, mit Schlaflosigkeit („du wirst verlieren / Menschen und Schlaf“) und auch sprachliche Differenzen werden angesprochen. Die „geschlossenen Lippen“ welche zu „fremden Lippen“ sprechen, verbildlichen Kommunikationsstörungen, die „Lippen“ stehen als Symbol für Sprache und Verständnis.
Das Gedicht hat an sich kein fixes Reimschema, und es gibt auch kein eindeutiges Reimschema. Der erste Absatz ist Einleitung und erster inhaltlicher Abschnitt zugleich, „die Weissagung der Zigeunerin“ verstärkt den ohnehin erzählerischen Charakter und besteht aus drei Verszeilen. Den zweiten inhaltlichen Abschnitt bilden die zweite und dritte Strophe gemeinsam, sie beinhalten die Folgen der Einsamkeit, nämlich Verlust, Angst und Kommunikationsstörungen, und umfassen je vier Verszeilen. Der dritte und letzte inhaltliche Abschnitt ist die vierte Strophe, sie personifiziert die Einsamkeit, welche „dich“ nun liebt und umarmt.
Das gesamte Gedicht umfasst lediglich ein Satzzeichen, es werden überhaupt keine Beistriche verwendet, Zäsuren kommen fast nach jeder Verszeile vor, Grund dafür sind die zerrissenen Sätze, die sich sogar über zwei Strophen hinziehen können. Die ganze letzte Strophe besteht aus einem Satz, in dem ein wesentlicher Teil fehlt. Somit wird eigentlich aus zwei Sätzen („Lieben wird die / die Einsamkeit“ und „die Einsamkeit / wird dich umarmen“) ein Satz, in welchem das Subjekt („die Einsamkeit“) nicht doppelt verwendet wird.

Der Vergleich der beiden Gedichte zeigt, dass das Thema „Einsamkeit“ die größte Gemeinsamkeit darstellt, wobei sich in Bezug auf das Empfinden derselbigen die Gemüter scheiden. Lists Vorstellung von Einsamkeit ist äußerst positiv, er verherrlicht sie und kann sie als Wegweiser und Tröster gebrauchen, wogegen sich Rose Ausländer die Einsamkeit fürchtet und sie als Angst einflößend und grausam beschreibt. Dabei muss aber beachtet werden, dass List zur Zeit der Aufklärung gelebt hat, während die jüdische Lyrikerin Ausländer den Holocaust miterlebt hat und dadurch einen völlig anderen Bezug zu Einsamkeit bekam.

Beide Gedichte beschreiben ein und denselben Zustand, und dennoch wird dieser von beiden Dichtern als völlig unterschiedlich wahrgenommen und zeigt große Differenzen in der Verbundenheit zur Einsamkeit.